Wintersonnenwende Bericht von helle

Geschrieben von Besucher wandervogel am . Veröffentlicht in Artikel

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Wintersonnenwende

 

(oder: „Wenn alte Männer erzählen…“)

 

Es war Mitte Dezember. Ich wartete in einem Ausrüstungsladen; gleich werde ich wohl bedient, nur einer ist noch vor mir dran, ein bärtiger Mann. Der fragte den Verkäufer nach einem Ersatzreißverschluss für sein Zelt. Der Berater riss die Augen auf und erklärte, die Zelte nebst Zubehör wären doch jetzt – im Dezember – schließlich alle im Lager. Vom Frühjahr an könne er ihm dann wieder zu allem Gewünschten verhelfen. Der Kunde vor mir wendete sich sichtlich enttäuscht ab.

 

„Mein Punkt“ war schnell erledigt, und mein Vormann stand noch vor dem Schaufenster. So konnte ich ihn ansprechen, um ihm zu erzählen, wo man dennoch – auch im Winter – Reißverschlüsse vieler Art bekommen könne: neben der Kasse für Kurzwaren eines bestimmten Warenhauses.

 

Der Mensch kuckte mich etwas überrascht an – ich sehe nicht gerade nach dem harten Allwettertyp aus. Wieso wissen Sie sowas? Ich erzählte, dass ich zu eigentlich jeder Jahreszeit zelte. Da meinte er, ob ich vielleicht Lust und zudem ein Boot hätte, was ich ihm bestätigte. Dann kommen Sie doch einfach mal mit zu unserer Wintersonnenwende, in der Elbe! In der Elbe??? Ja, aber natürlich nicht direkt im Wasser.

 

Begeistert stimmte ich zu, mal was Neues.

 

Am verabredeten Tag war schwerer Eisgang, also nix rechtes mit paddeln – die zwei Spannen dicken Eisschollen hätten uns unausweichlich die Boote zerquetscht. In mäßiger Laune lagen wir bald in den Pennbeuteln, hörten das Eis knirschen, und ich entdeckte das perfekte „Winternachteinschlafmittel“: Rate doch mal, ob es flutet oder ebbt! Mangels nächtlicher Orientierung, verbunden mit grübeln, pennt man fast noch vor dem Augen zumachen ein. Erholsam.

 

Ein Jahr später. Wir schaufelten unseren alten Ally-Canadier zum bis dahin unbekannten Gestade (es war tatsächlich unweit Stade), legten an und brachen auf, die anderen zu suchen – es gab sogar einen schmalen Pfad, dem wir folgten; drei wohlgestiefelte Leute mit dicken, grünen Rucksäcken. „Kuck ma‘ – da is ‘ne Rauchfahne!“ Ich schlich mich näher ran, und kam umgehend grinsend zurück. Ganz kurze Beratung, und wir gingen los, Richtung Rauchfahne.

 

Es war schon etwas, was wir da erblickten; ein bärtiger jüngerer Mann saß im Schein der Nachmittagssonne vor seinem Zelt am kleinen Feuer, auf dem ein Teekesselchen summte; er las – in einem Märchenbuch! Scheinheilig fragte ich ihn, als er aufblickte, ob wir hier auf dem richtigen Weg nach Finkenwerder seien. „Wo wollt Ihr denn hin?“ fragte er völlig verdattert. „Nach Finkenwerder, aber wir haben uns wohl verlaufen“. „Ja, aber“ stotterte er „wie kommt Ihr denn zu Fuß hierher – dies ist doch eine Insel!“. 

 

Nachdem wir ihn feixend aufgeklärt hatten, fanden wir auch bald die anderen Leute, schon beim Aufbauen ihrer Zelte.

 

Ein vergnüglicher Klönabend folgte, und ich, als der Neue, musste was über mein Vorleben erzählen; mich kannte ja nur einer der ganzen Horde, nämlich „der mit dem Reißverschluss“. Der Märchenmann war übrigens sein Bruder, wie sich dann heraus stellte.

 

Die Jüngsten waren wir ja alle nicht gerade, und auch mein Bart ergraute bereits. „Hast Du vielleicht den Krieg noch abbekommen?“ Nee – nicht so richtig, nur beim „Volkssturm, drittes Aufgebot“, nicht mehr ganz zur Front; nur mit sog. Wehrübungen, das hieß dann (mit voller Bewaffnung): „An den Horizont, Marsch-Marsch, aber ‘n bisschen plötzlich!“ schrie das Miststück von Feldwebel (alter Adel). Trillerpfeife, hinlegen – Trillerpfeife – zurück, brüllte der widerwärtige Schleifer Mattukat, bis zum Wahnsinn. Wer sich aber hatte kleinkriegen lassen, wurde nicht weiter gescheucht, sondern bekam sogar eine Extraration Futter – und kam zum Dank als „Freiwilliger“ zum Heer …

 

Immerhin, erzählte ich weiter, drei von uns (zu denen ich allerdings nicht gehörte) versanken „im Horizont“, und pennten noch ‘ne Runde. Die kamen nachts unbemerkt wieder in die Zelte; es waren Jürgen Lauenroth, Horst Otten und Günther Lohmann. Die hatten sich nicht „freiwillig“ gemeldet, sich also nie klein kriegen lassen.

 

Die ganze Runde am Feuer schwieg, ich dachte fast, meine Story hätte sie zum Einschlafen gebracht, aber ich sollte doch was über mich erzählen. Da fiel mir auf, dass der ganze Kreis gar nicht auf mich blickte, sondern zu jemand ganz anderem. Und der blickte mich freundlich an und knurrte: „Ja, der Mattukat, dieses Schwein!“

 

„Wieso“, fragte ich überrascht, „hast Du das Aas auch kennen gelernt?“

 

Da kam die Antwort: „Ich bin Horst Otten.“ Den hatte ich nach all den Jahren begreiflicher Weise nicht erkannt.

 

Hintergrund für das Schweigen der Runde: Horst hatte seine Geschichte selber schon hier am Feuer einige Male erzählt und bekam dann wiederholt zu hören: „Ja,ja – Horst, das kennen wir ja. Nun bleib‘ man bei Deinem „Wasserstandsanzeiger.“ Das war seine Kornflasche, er trank nichts anderes (Vollkorn ist ja auch gesund), und wenn die geleert war, kroch er in sein Zelt, wo sicherheitshalber eine Laterne leuchtete.

 

Jetzt hatte ich, als Außenstehender, Horst sozusagen rehabilitiert.

 

Wenn alte Männer erzählen …

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Bericht von Helle Wiese / Ammersbek

 

Gesandt an Wandervogel / Folkmagazin 12. 3. 2011